Was ich gerade lese - Weiß-Sein unter die Lupe genommen
Nachdem Tupoka Ogettes geplante Lesung Ende März wegen der Corona-Krise abgesagt wurde, nahm ich mir vor, ihr Buch zu leihen. Gleichzeitig empfahl eine Bloggerin der Healing-Solidarity-Bewegung zwei Bücher, die ich früher schon einmal hatte lesen wollen, also wurde es mal Zeit.... Hier sind sie:
Ich habe mit "White Fragility" angefangen. Die US-amerikanische Autorin Robin DiAngelo analysiert, wie verwundbar die meisten der weißen Menschen dieser Welt reagieren, wenn man sie mit ihrer eigenen Hautfarbe konfrontiert. Ich stutzte erst einmal - ja, tatsächlich, wann setze ich mich als Weiße schon damit auseinander, dass ich weiß bin? Meine spontane Reaktion wäre für mich noch vor acht, neun Jahren gewesen: Was soll das denn schon Besonderes zu bedeuten haben? Ich habe mich sechs Jahre lang in Afrika und später hier in Deutschland damit auseinandergesetzt - aber das muss man als Weiße nicht in der Tiefe. Zum Glück hatte ich kritische malawische Kolleginnen, die mir einige für mich neue Wahrheiten ziemlich klar vor Augen führten und nicht ein bisschen Mitleid mit mir hatten. (Ein großer Dank an Linda, Matinda und Ann!) In dem Buch legt DiAngelo dar, dass alte Strukturen, die die Dominanz unserer westlichen Gesellschaften bis heute in der Welt sicherten, dafür sorgten, dass sich Weiße nicht mit diesen Fragen beschäftigen oder zumindest nicht allzu intensiv, weil sie Weiß-Sein immer als "die Norm" erlebten (nicht nur in Ländern, wo es wenige Schwarze gibt). DiAngelo ist eine ziemlich glaubwürdige Autorin, da sie vor ihrer Universitätskarriere lange Jahre Fortbildungen zum Thema "Rassismus" durchführte und bei ihren Seminarteilnehmenden immer wieder auf dieselben Widerstände stieß. Sie wunderte sich immer mehr darüber, weshalb Leute ein Seminar zu "Rassismus" buchten, dann aber nicht darüber sprechen wollten, sondern alles damit Zusammenhängende als "übertrieben" abwiesen und sich verletzt fühlten. DiAngelo plädiert für eine erforschend-neugierige Haltung Rassismus und dem eigenen Verhalten als Weißer oder Weißem gegenüber, die es ermöglicht, Kommunikation in ein Gleichgewicht mit Schwarzen Menschen zu bringen, ihnen zu glauben und sie zu stärken.
Noch einen Schritt weiter geht der US-amerikanische Psychologe Resmaa Menakem in seinem Buch "My Grandmother's Hands". Er erklärt ebenfalls Mechanismen des Rassismus, aber aus der Perspektive eines Trauma-Therapeuten. Er bringt mit der Trauma-Logik Licht in die völlig unerklärlichen, täglichen Kurzschlusshandlungen US-amerikanischer Polizisten, die die Erschießung unbewaffneter Schwarzer auf offener Straße zur Folge haben. Er vertritt außerdem die Perspektive eines Körpertherapeuten, die sehr spannend ist, da Tabuthemen sowie intellektuelle und emotionale Schutzschilde in Sachen Rassismus beschrieben werden, ungefähr nach dem Motto "Deinem Körper ist es egal, wie gebildet und tolerant du bist - er will sich sicher fühlen, und ein Schwarzer Mensch gibt vielen Weißen ein Gefühl von Unsicherheit". Menakems geschichtliche Rückschau zeigt, dass Weiße sich gegenseitig traumatisierten, seit es im Mittelalter eine Geschichte von Unterdrückung und Feudalismus gegeben habe, und dass sie die Gewalt an die Schwächeren der US-amerikanischen Gesellschaft weitergaben. Er geht auf Quellen ein, die belegen, dass "Weiß-Sein" auch für Iren oder Italiener ein Status gewesen sei, den sie am Anfang nicht innehatten, und dass die Restriktion des Zugangs zu diesem Status der Oberschicht geholfen habe, die arme Unterschicht zu spalten. Seit es Rassismus gibt, kann sich der weiße Mensch der Unterschicht immer noch als etwas besser fühlen als der Schwarze aus derselben Unterschicht. Das Buch enthält etliche Übungen für Schwarze und weiße Menschen überall in der Welt sowie für Angehörige der Polizei. Die Übungen helfen dabei, traumatischen Stress zu reduzieren und sich bewusster zu verhalten. Nachdem ich in Burundi begonnen hatte, mich mit Trauma zu beschäftigen, war ich fasziniert von dem Buch, da ich es besonders tiefgründig finde und die Sichtweise meiner Meinung nach Opfern und Tätern hilft, Verletzungen anzunehmen und zu überwinden und somit erst den Weg frei zu machen für Veränderung. Der Autor erleichterte mir außerdem das Lesen durch seinen Stil - er schreibt in einem extrem freundlichen, entspannten Tonfall und auf Augenhöhe mit den Lesenden. Ich habe die Übungen gemacht, mache sie weiterhin und kann das Buch sehr empfehlen.
Schließlich habe ich die Beobachtungen der US-amerikanischen Autoren in meinem eigenen lokalen deutschen Kontext wiederfinden wollen, wofür Tupoka Ogettes "Exit Racism" einen wunderbaren Leitfaden anbietet. Auch diese Autorin führt seit Jahren Fortbildungen zum Thema "Rassismus" durch, auch sie erlebt und beschreibt dieselben Widerstände bei ihren Kursteilnehmenden wie DiAngelo und sie erklärt wie Menakem geschichtliche Hintergründe zum besseren Verständnis rassistischer gesellschaftlicher Mechanismen. Das Buch ist außerdem mit Scan-Codes ausgestattet, die der Leserin oder dem Leser weiterführendes Material anbieten. Wie Menakem gelingt es auch dieser Autorin, die harten Brocken der Rassismus-Aufklärung mit ihrem freundlichen, dem Lesenden zugewandten und verständnisvollen Stil so genießbar zu machen, dass ich kaum verstehe, wie jemand noch protestieren kann. Am meisten ging mir dabei der Film "The Doll Test" unter die Haut, der seit 1940 wiederholte Male mit Schwarzen Kindergartenkindern durchgeführt wurde. Die Kleinkinder wurden gebeten, schwarze und weiße Puppen zu charakterisieren: "Welche Puppe ist intelligent, hübsch, nett? Welche Puppe ist dumm, hässlich, unfreundlich?" Die Kinder haben zu einem überwältigenden Anteil der weißen Puppe die positiven und der schwarzen Puppe die negativen Attribute zugeschrieben. Zum Schluss fragte man sie: "Welcher Puppe bist du ähnlicher?" - Dann folgte meist eine kleine Pause, bis das Kind auf die schwarze Puppe zeigte. Kinder, von denen man annimmt, sie seien unschuldig, lebten in einem wohlmeinenden Umfeld... haben also schon die Mechanismen von Rassismus verinnerlicht und fangen schon an, sich selbst zu diskriminieren. Das führt so deutlich vor Augen, dass für eine bessere Zukunft jetzt der Zeitpunkt ist, um anders zu handeln - damit die Mechanismen ins Bewusstsein in der Gesellschaft kommen und jeder einzelne sich für ein wahrhaftigeres Miteinander engagiert.