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Zygmunt Baumans „Flüchtige Moderne“ und drei Antworten der Mediation

2. Juli, 2021 um 22:30 Uhr
Bauman hat wie kaum ein anderer schon vor 20 Jahren Phänomene unserer Zeit beschrieben. Vor allem solche, die unsere Welt radikal verändern und die zwischenmenschliche Beziehungen verkomplizieren. Ich bewundere Baumans Beobachtungsgabe und sein unbedingtes Verantwortungsbewusstsein. Während meiner letzten Mediationen kamen mir immer wieder Assoziationen zu dem einen oder anderen Aspekt seiner Schriften.


"Dominanz (über den anderen) entsteht durch die eigene Fähigkeit zu entkommen, sich zu lösen, 'woanders' zu sein."

Nähe und Distanz sind Kernaspekte jeder Beziehung, werden mit Persönlichkeitstypen verbunden, werden aber auch sozial ausgehandelt. In einer meiner letzten Mediationen sagte diejenige, die distanzierter war, immer: “Kein Problem”, und schaute nach unten. Ich strengte mich an. Ich wollte mich noch mehr in sie einfühlen als sonst, da sie so wenig aus sich heraus kam und damit auch nicht gesehen werden konnte. Ich fragte sie, ob nicht eventuell Folgendes in ihr vorgehen könnte, und ich übertrieb ein wenig, um ihr die Gefühle vorzuschlagen, die ich hinter ihrer Fassade vermutete: “Kommt die doch schon wieder so an, was soll das eigentlich! Will die mich auf den Arm nehmen? Immer wenn die so mit mir redet, bin ich total empört!” Und fragte dann: “Stimmt es, waren Sie empört oder war es ganz anders?” Da sagte sie: “'Empört' stimmt”, und schaute dabei zum ersten Mal hoch und mir direkt in die Augen. Eigentlich ist es mit Nähe und Distanz wie mit Ebbe und Flut – man braucht beide, man hat beide in sich, in einer guten Beziehung ist für beides Platz. Woanders sein kann ich auch im selben Raum. In einer Mediation spricht man davon, die Menschen “abzuholen”, das heißt, man ist genau da, wo auch sie sind und schafft eine für sie angemessene Nähe, in der sie im besten Fall ganz sie selbst sein dürfen und gesehen werden.

"Globalisierung ist die letzte Hoffnung, dass es einen Ort gibt, an den man gehen und Glück finden kann."

Als ich in Malawi und später Burundi lebte, waren diese Länder für einige Europäer wahre Sehnsuchtsorte – sie hofften, hier besser, freier, glücklicher, sonniger... als in Europa leben zu können. Globale Rankings zeigen auf, welche Universitäten, Städte oder Unternehmen im globalen Vergleich besonders leistungsstark seien - gemessen an Kriterien, von denen man nicht genau weiß, wer sie eigentlich aufgestellt hat.

Ich kann aus verschiedenen Motiven heraus an einen Sehnsuchtsort gehen wollen oder vergleichen, wie Bedingungen anderswo sind. Ich kann rational Informationen gewinnen und mich anspornen lassen, meine ZIele besser zu erreichen. Ich kann etwas Bestimmtes suchen und hoffen, es woanders zu finden. Ich kann einen Blick für Mängel entwickelt haben - worin bin ich oder ist jemand anders nicht so gut wie jemand Drittes? In letzteren Fällen werde ich vielleicht auch an meinem Sehnsuchtsort oder einem global als innovativ und erfolgreich eingestuften Unternehmen enttäuscht, weil ich nicht finde, was ich suche. Das Vergleichen zeigt mir auch auf, wie ausschnitthaft ich das Leben sehe und welche Ausschnitte ich mir bewusst oder unbewusst immer wieder gern aussuche.

In einer Mediation waren Vereinsmitglieder von ihrer Vorsitzenden enttäuscht – sie sei zu weich, andere Vorsitzende erzielten laufend Fortschritte, sie aber kriege nichts hin, eine wichtige Maßnahme war gescheitert. Die Vorsitzende sagte: “Mag sein, ich bin ein weicher Typ. Aber daran scheiterte unser Plan nicht, es gab andere Gründe.” Die Vereinsmitglieder fanden in der Mediation heraus, welche. Weil sie nicht alles hatten miterleben und sehen können und unter großem Druck standen, hatten sie sich Gründe aus dem ausschnitthaften Erleben herausgesucht. Durch die Mediation gewannen sie wieder ein vollständigeres Bild ihrer Vorsitzenden und der Gesamtsituation, und die Vergleiche waren nicht mehr nötig, weil sie am Ende des Gesprächs gefunden hatten, was sie gesucht hatten.

In meiner früheren Arbeitswelt erlebte ich junge Leute, die begeistert aus ihrem Freiwilligenjahr in armen Dörfern in Ländern Afrikas wiederkamen und schwärmten: “In Tansania wurden mir die Augen geöffnet - jetzt mache ich alles anders!" Einige wurden Aktivisten und wollten nur noch davon erzählen, was sie Großartiges erlebt hatten. Aus ihren Berichten hörte ich heraus, dass im Ausland auf einmal alles viel erfrischender war. Das, was sie gefunden hatten, stand in keinem Ranking oben, und es war definitiv nicht das, was sie gesucht hatten. Aber sie hatten sich von den Suchen und Vergleichen im Kopf gelöst und waren frei. 

"Die soziale Ordnung wird durch Konfrontation, Debatte, Verhandlung und Kompromiss zwischen Werten, Präferenzen und gewählten Lebensweisen und Selbstidentifikationen vieler und unterschiedlicher, aber immer selbstbestimmter Mitglieder der Polis geschaffen."

Die Welt ist größer geworden, und die Entscheidungen und Hierarchien gehen über unser eigenes Land hinaus. Wie können wir dennoch die gesellschaftliche Debatte, das Ringen um das für uns angemessene "gute und schöne Leben" fortführen, auch mit Neuankömmlingen in unserem Land, auch, wenn Bezüge auf einmal so komplex und global sind?

In einem Gespräch Ende letzten Jahres klärten wir einen eskalierten Konflikt über völlig konträre Arbeitsstile nur wenige Zeit vor einer wichtigen externen Evaluation. Am Ende fiel jemandem auf: “Ach, jetzt sehe ich es erst: Wir arbeiten alle an der Internationalisierung medizinischer Forschung, aber haben übersehen, dass wir hier ja auch mit Diversität zu tun haben. Da hatten wir anscheinend auch Missverständnisse...” Und dann plötzlich sagte jemand von der anderen Seite: “Ich verstehe auch nicht alles so gut. Bitte seht es mir nach, Deutsch habe ich gerade erst gelernt.” Plötzlich waren sie einander nicht mehr ganz so böse. Die Welt mag komplex sein, aber wir begegnen einander immer als Menschen, und die Debatte und das Gespräch sind auch deshalb wichtig, damit wir uns immer wieder als solche erkennen und schätzen lernen können.

Die Wahrheit kann nur am Ende eines Gesprächs auftauchen, und in einem aufrichtigen Gespräch (das heißt, es handelt sich nicht um ein in Tarnung gehaltenes Selbstgespräch), weiß keiner der Gesprächspartner oder kann mit Sicherheit wissen, wann sie endet - das gibt es.

Quelle: Flüchtige Moderne - Zygmunt Bauman

Fotos von Pexels.com: Asad Photo, Vie Studio Startup, Stock Photos


 

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